Raphael Gualazzi - Reality and fantasy
 
Massenveranstaltungen - und besonders denen im TV, stehe ich von Natur aus skeptisch gegenüber. Aber kann man als Musikliebhaber den Eurovision Songcontest ignorieren? Ich finde nicht und so fand auch ich mich, wie 14 Millionen Zuschauer vor dem Fernseher wieder. Und weil das alles allein keinen Spaß macht, war ich auf einer Grand Prix Party. Heute heißt das natürlich Eurovision Song Contest Party und schon der Name scheint ein Grund dafür zu sein, dass 120 Millionen europäische Zuschauer an diesem Abend unfreiwillig einem Jazzkünstler lauschten. Gab es jemals diese Menschenmenge, die einem Jazzmusiker zugehört hat? Sicher nicht. Raphael Gualazzi, der italienische Beitrag schaffte es und stach auf so ungewöhnliche Weise aus dem Trallalla heraus, dass man sich diesen Namen einfach merken musste. Da standen eine handvoll Leute auf der Bühne, die so munter und natürlich drauf losgejazzt haben, dass man applaudieren wollte und sich gefreut hat Europäer zu sein.  Ein paar Minuten, in denen alles anders war als vorher und nachher. Für den 29jährigen Raphael Gualazzi ist das Anderssein allerdings längst zur Realität geworden. Als ganz Italien zu den Eurodancehits der 90er tanzte, setzte der damals 9 Jährige sich ans Klavier und bearbeitete es mit einer solchen Leidenschaft, dass er die Herzen der Menschen in seinem Heimatdorf im Sturm nahm. Später, verbesserte er sein Spiel an der weltberühmten Universität von Urbino, eine der ältesten Unis Italiens. Jazz ist für Raphael Gualazzi keine Weltanschauung, sondern gelebte Realität, die Form von Ausdruck, auf der alles basiert, was heute als Popmusik bezeichnet wird. Jazz ist für den Pianisten und Sänger ein Freifahrtschein zu all jenen Musikspielweisen, die beseelten Ausdruck besitzen. Sein Jazz klingt nicht wie Fundamentalismus, sondern wie vor Lebenslust überschäumender Modernismus. Es groovt ordentlich auf seinem Album, manchmal scattet er sogar, das Piano oft im Ragtime – Stil gespielt und immer mit Liebe zum Detail, erinnert an die neuen großen der Jazzszene. Ein bisschen Jamie Cullum, in den wenigen ruhigen Momente, Norah Jones oder zumindest in der Instrumentierung Diana Krall. Doch Raphael Gualazzi kennt die wahren Wurzeln der Inspiration. Der Motown Sound, der auch irgendwann den Jazz erreichte und von ihm inspiriert wurde, wie auch die Altmeister Duke Ellington, Fats Walter oder der zu unrecht vergessene Johnny „Guitar“ Watson. Zwischen afroamerikanischer und italienischer Popkultur gesungen auf englisch oder manchmal italienisch, ist allein das Entdecken dieses Musikers es wert, den ESC gesehen zu haben. „Raphael Gualazzi 12 Points.“ Das nächste Mal bin ich wieder dabei. 


Als CD und als Download erhältlich
Raphael Gualazzi
Montag, 13. Juni 2011