The Lilac Time - No sad songs
 
Nein, diesmal schaff ich es. Weg mit der Lethargie. Verbot an die Finger: Keine Moll-Griffe mehr. Keine traurigen Lieder mehr! No sad songs. Wenn man denn schon mal wieder ein neues Album mache, dann muss man doch auch ganz klare Ziele setzen. Was n Quatsch!  
Stephen Duffy ist für mich einer der größten englischen Songwriter, seitdem britische Musik mein Leben als lebenswichtige Kunst begleitet. Als ich ihn einmal traf, in der Mitte seiner Ups-And-Downs (sic!)-Karriere, Mitte der 90er Jahre, er in seiner Solophase mit dem Projekt Duffy unterwegs, als Musiker auf CD (unter dem Namen „Duffy“) und Konzerten begleitet von der US-Formation „The Velvet Crush“ wirkte er irgendwo zwischen entspannt und angespannt. Die übergroßen Pop- und Charthits („Kiss Me“, „Icing on the Cake“ unter dem Namen Stephen ‚Tin Tin‘ Duffy) waren mehr als ein Jahrzehnt her. Der erste Anlauf seiner Folkband „The Lilac Time“ nach drei Alben schon wieder beerdigt, das unfassbar gute Crossover-Projekt mit Nigel Kennedy („Music in Colour“) ein teurer und von der Plattenfirma mit Vertragsende bestrafter Flop und den etwas indifferenten Einschlag in eine elektrischere, rockigere Richtung („Duffy“) galt es gerade zu promoten. Vorprogramm von Lloyd Cole (dem anderen der größten britischen Songwriter, seit ich Musik brauche). Was für eine Kombi?! Markthalle Hamburg. Was für ein Venue?! Was für ein Konzert! 
Ein Zufall, dass sich wenige Wochen vor diesem Konzert im Oktober 1995 ein gewisser Robbie Williams von seiner sehr erfolgreichen Jungstruppe „Take That“ getrennt hatte um Auszutesten, ob so ein Dauerberieselungsmonsterhit, wie „Back for Good“, (in 31 Ländern ein Nummer-1-Hit) , auch als Solokünstler möglich sein könnte. Dass ausgerechnet ein gewisser Guy Chambers, Tourmusiker der Britpop/Rockgrößen Waterboys und Bandmitglied von World Party (bedenke: Zwei der absoluten Lieblingsbands von Plattenfreund Heineke) den Weg für Williams ebnen würde, genauso groß zu werden wie Take That selber (Empörung aus dem Fan-Lager: GRÖSSER!), mag erklären, warum man sich immer mal wieder ertappt hat, Williams-Songs zu mögen. Dass Williams Überhit „She’s The One“ 1997 auf dem World Party-Album „Egytology“ zu hören und von seiner Version 1999 kaum zu unterscheiden war, freut World Party-Sänger Karl Wallinger bestimmt noch heute, schließlich hatte er, nicht Chambers, den Song geschrieben. Was das mit Stephen Duffy und The Lilac Time zu tun hat, wissen Fans natürlich. Williams und Chambers gingen nach fünf erfolgreichen Alben und dazugehörigen Tantiemen getrennte Wege. Williams wollte mehr selber schreiben, war aber nicht so vermessen, zu denken, er könne es ganz alleine schaffen. Ein neuer Songwriter musste her und so erzählt sich die Geschichte, dass Williams großer Lilac Time-Fan gewesen sei und auch die Songs, die Duffy für die Barenaked Ladies geschrieben hatte, zu seinen Lieblingssongs zählten. Stephen Duffy hatte seine elektrische Solo-Phase, der er mit seinem wieder folkigeren und vielleicht besten Soloalbum „I love my Friends“  eh wieder den Stecker gezogen hatte, Anfang der 2000er auch mit der Wiedergeburt von The Lilac Time namentlich begraben. Schrullige Ausflüge zuvor angegangen unter dem Bandnamen Me Me Me, an der Seite von Alex James (Blur) und Justin Welch (Elastica) sowie als The Devils, diesmal zusammen mit Nick Rhodes von Duran Duran brachten ihm vielleicht mehr Spaß und Beachtung als Geld und neuerlichen Ruhm und mir die Chance, den Satz unterzubringen, der der in keiner Duffy-Kritik fehlen darf: Ja, er verließ Duran Duran einst als Gründungsmitglied, 1979, bevor diese 1980 den ersten Plattenvertrag unterschrieben und erfolgreich wurden. Aber zu seiner Zeit war Duran Duran noch eine Schülerband.  
Kurz bevor die ersten gemeinsamen Songs von Stephen Duffy und Robbie Williams auf dessen Greatest Hits-Album erschienen, brachten The Lilac Time ihr zweites und bis dato bestes Album nach Wiederzusammenschluss heraus. Ob Stephen Duffy gedacht haben mag, dass sein Name bald darauf im Zusammenhang mit Williams öfter fallen würde, entzieht sich mir als Begründung, dass „Keep Going“ unter dem Label Stephen Duffy & The Lilac Time erschien.  Duffys Lilac-Timesques Folk-Songwriting  findet man in Williams Songs wie „Misunderstood“ oder „Advertising Space“ wieder. „Lilac Time“ Songs, gesungen vom größten Entertainer Europas zu dieser Zeit. Ich gestehe frei, ich bekam Gänsehaut, Stephen Duffy 2004 und 2005 an der Seite von Williams bei „Wetten dass…?“ performen zu sehen. Fast zehn Jahre nach unserem Gespräch in der Markthalle, über all seinen Frust, dass das Nigel Kennedy-Projekt so gescheitert war, dass er in einer Findungsphase sei, dass er, obwohl ihm die Tin Tin - Hits seiner Anfangstage noch immer Geld bringen, keinen großen Bezug mehr zu ihnen habe, war Stephen Duffy auf einmal einer der erfolgreichsten Songwriter des Kontinents. Und vergesst die Unken, die sagen, mit dem Weggang von Chambers ging auch der Erfolg von Williams. Das „Intensive Care“-Album, an dessen 12 Songs 12 mal auch das Songwriting-Credit Stephen Duffy prangt, ist alleine in Deutschland das achtbest verkaufte Album der gesamten Dekade geworden, weltweit liegen die Verkäufe bis heute bei deutlich über 6 Millionen Kopien. „Ich denke,…, das Album wird in der Geschichte bestehen. Es war ein anständiges, erwachsenes Album, eines, das man komplett durchhören kann. Keine Gimmicks und nicht übermäßig kommerziell – obwohl es enorme Mengen verkauft hat.“ Sagte Duffy dem Musikexpress 2007. Seltsamerweise führte der Abnabelungsprozess der Williams-Phase zu einem Lilac Time Album („Runout Groove“), das ich als das vielleicht schwächste Werk von The Lilac Time halte. Noch einmal unter dem Label Stephen Duffy and The Lilac Time erschienen. 
Wer weiß, ob es ohne die Zusammenarbeit mit Williams „No Sad Songs“ in Albumform so im Jahre 2015 hätte geben können. Man könnte sagen, Duffy hat sich durch sie und die Unabhängigkeit die sie finanziell mit sich brachte, ermöglicht, sich neun Jahre Zeit für ein neues Album zu nehmen und sich nicht großartig darum scheren zu müssen, ob ein kommerzieller Erfolg daraus werden muss. Fakt ist zudem: Es ist angenehm, dass sich mit Tapete aus Hamburg ein Label gefunden hat, das sich seit Jahren im Bewahren und/oder Wiederaufleben großer Songwriter oder Bands der letzten 30 Jahre so gut hervortut. Man denke an Lloyd Cole oder Robert Forster.
Dass Stephen Duffy im Laufe seiner Karriere so viele traurige Lieder komponiert hat, dass er dieses Mal eben „No sad Songs“ auf ein Album bannen wollte, ist natürlich ein Verwirrspiel, wenn man es hört. The Lilac Time bleiben melancholisch wie immer. Das Album reiht sich nahtlos an das ein, wofür die Band seit Ende der 80er Jahre steht. Folkbeeinflusstes Songwriting auf allerhöchstem Niveau. Duffys privates Glück spürbarer denn je bei einem Gros der Songs. Musikalisch. Textlich. Beim Hören fühlt man sich sofort in Duffys Leben der letzten Jahre hinein. Claire Worrall, die er einst als Keyboarderin einer Lilac Time Session kennenlernte und in die Begleitband von Williams einbrachte, ist heute seine Frau. (Gerüchte besagen, dass er sie Williams ausspannte, was zum Ende der Zusammenarbeit beider führte). Die beiden leben mit gemeinsamer Tochter in Cornwall, einem der schönsten Fleckchen, die die britischen Inseln zu bieten haben, wer schon einmal dort war, weiß, was das Besondere des Landstrichs ist. Textlich lebensbejahend wird die Schönheit von Blumen (wer die Website der Band in den letzten Jahren verfolgt hat, wird sich erinnern: Neben dem Hinweis, dass das nächste Album noch immer nicht fertig sei, enthielt der Internetauftritt viele Fotografien von Blumen und blühenden Pflanzen), dem Zauber der Heirat, der Intensität von Musik und der Freiheit von Kreativität und Kunst. Bohemia forever! Die Überschrift im Booklet scheint Duffy derzeitiges Lebensmotto zu sein. Wohl dem, der es sich aufgrund seiner außergewöhnlichen Karriere leisten kann, nicht gezwungen zu sein, Erfolg haben zu müssen. Künstler zu sein. Um der Kunst willen. Kritisch zu sein. Der Politik gegenüber. Den Verfall anprangernd. Hitpotential? Braucht es nicht, „No Sad Songs“ ist das Werk von Künstlern. Anspruchsvoll zum einen, wenn es in karibische Calypso-Klänge abdriftet. Diese jedoch dann als Referenz auf sozialkritische Themen der Reggae-Musik deutend gewählt. Verspielt in seiner Freigeistigkeit. Ruhe vermittelnd. Gespickt mit ein paar der besten Songs, die Stephen Duffy seit Karrierebeginn geschrieben hat. „The First Song Of Spring“ – Eine Schlüsselnummer des Albums, die ganz ruhig beginnt, die im Titel schon erahnen lässt, dass es hier um die Schönheit eines Beginns geht. Den Zauber der Liebe. Des Miteinanders und, ganz platt gesagt, sich immer wieder daran zu erinnern, wie gut es einem geht, sich daran zu erinnern, wenn man ein glücklicher Mensch sein kann. „Have I told you that I love you?“ fragt Duffy wiederholend im Refrain. Nur um irgendwann hinterherzuhauchen: “Today?” Wer vom Zauber dieses Stückes nicht überwältigt wird, wird die Stimmung des Albums nicht einfangen können.  „She Writes A Symphony“ beginnt ebenso deutlich: „Hey, let’s start a family…”, Duffy arbeitet seine vergangenen Jahre auf. Neue Liebe. Neues Leben. Cornwall. “We’ll live where the blossoms bloom…”. Die Zeit von Midlife Crises und  Depressionen ist beendet.  “I know where the light is. It’s always out there in the darkness!“ Als wäre es eingeschnitten aus seiner Session der ersten Alben der späten 80er Jahre,  eine Referenz: “Dooo dooo dooo dooo hey hey doowoop dooah!”  Großer Song. „The Wedding Song“ – Teil zwei (oder eigentlich schon Teil drei) der Verarbeitung des persönlichen Glücks der näheren Vergangenheit.  Lilac-Time-typisch voller Pedal-Steelguitars. Harmonisch verschachtelter Gesang des Ehepaares Duffy. Betörend eintönig. Aufbauend. Bis dass der Tod sie scheide. Schließlich der Titletrack. „No Sad Songs“ -  Schon die ersten Töne nehmen mich gefangen. Wie kann es sein, dass Melancholie und Schwermut dieser Stimmung mit „No Sad Songs“ überschrieben ist. Das Auf und Ab einer Beziehung. Das Durchleben eines gemeinsamen Lebens. Das Positive überwiegt. Der Song lebt. Weil er ein Leben entwickelt. Weil er ein weiteres Ausrufezeichen setzt, dass man für große Musik nicht immer den Ohrwurm auf den Angelhaken spießen muss. „You’ll always be my girl…“ Natürlich. Und gut so.
Man mag anmerken, das Album verflache auf der Zielgerade leicht. Doch im Gesamtwerk der Band fanden sich immer wieder dahinplätschernde, oft von Stephens Bruder Nick komponierte, Instrumentals. Würden diese Tracks im Hintergrund laufend Bilder eines passenden Films untermalen, man würde es stimmig finden. Selbst die eigenwillige Monotonie von „A Cat On The Long Wave“ entwickelt sich, versprochen, mit jedem weiteren hören.
Fazit: Ein manchmal monotones Meisterwerk. Künstlerisch wertvoll. Wertvolle Kunst. The Lilac Time haben für mich auf den Weg zurückgefunden, den sie vor ihrem eher schwächeren letzten Album „Runout Groove“ verlassen hatten. Die Selbstsicherheit für die richtige Unaufgeregtheit imTreffen der Töne und Harmonien. Die Ruhe, die dem Gros der Songs gelassen wird, sich zu entfalten wie die Blumen in Claire und Stephens Garten in Cornwall: Eindrucksvoll. Eine Hommage an tief empfundene Liebe und die künstlerische Freiheit. Bohème, so schreibt Wikipedia, bezeichnet eine Subkultur von intellektuellen Randgruppen mit vorwiegend … künstlerischen … Ambitionen.  Die leidenschaftliche Hingabe an die Kunst, selbst wenn sie nicht zum Broterwerb reicht.
„And if you want we never leave. Unless you want to! You know it’s up to you!” 9/10
löf - Britcorner 


Appendix
Playlist zum besseren Begreifen des Schaffenswerkes von Stephen Duffy:
1.	The Lilac Time – The first song of spring
2.	Stephen Duffy And The Lilac Time – Nothing can last
3.	Stephen Duffy – The Deal
4.	Duffy – Needle Mythology
5.	The Lilac Time – Black Velvet
6.	The Lilac Time – The Whisper of your mind
7.	Stephen Duffy – I love you
8.	Stephen Duffy & Nigel Kennedy – Natalie
9.	Duffy - Rachel
10.	Me Me Me – Hanging Around
11.	The Lilac Time – Return to yesterday
12.	The Lilac Time – North Kensington
13.	The Lilac Time – Madresfield
14.	Stephen Duffy & Nigel Kennedy – Holte End Hotel
15.	Stephen Tin Tin Duffy – She makes me quiver
16.	Duffy – Mr. 20th Century Boy
17.	Stephen Duffy & Nigel Kennedy – Autopsy
18.	The Lilac Time – Finistére
19.	The Lilac Time – Together
20.	Stephen Tin Tin Duffy – Wednesday Jones
21.	Duffy – The Postcard
22.	The Lilac Time – The Darkness of her eyes
23.	Stephen Duffy And The Lilac Time – Home
24.	Stephen Duffy And The Lilac Time – Bank holiday monday
25.	Duffy – 23
26.	The Devils – Newhaven – Dieppe
27.	The Lilac Time - No sad songs
28.	Robbie Williams – Misunderstood
29.	Robbie Williams – Advertising Space
30.	Barenaked Ladies – Call And Answer
The Lilac Time
Dienstag, 27. Oktober 2015